M. Ruoss: Fürsprecherin des Alters

Cover
Titel
Fürsprecherin des Alters. Geschichte der Stiftung Pro Senectute im entstehenden Schweizer Sozialstaat (1917–1967)


Autor(en)
Ruoss, Matthias
Erschienen
Zürich 2015: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
340 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Anita Ulrich, Politikwissenschaft/ Soziologie, TU Dresden

Die vorliegende Studie zeigt in einer wissens- und sozialpolitikhistorischen Perspektive auf, welche Rolle die 1917 gegründete «Fürsprecherin des Alters» (seit 1978 Pro Senectute) beim Aufbau des schweizerischen Sozialstaates spielte und wie dieser die private Fürsorgearbeit der Stiftung prägte. Matthias Ruoss geht dabei weit über eine institutionengeschichtliche Perspektive hinaus, viel mehr dient ihm die Stiftung als Ausgangspunkt für Einblicke in breite gesellschaftliche Entwicklungen und gesellschaftliche Diskurse um Alter und Altern. Der Untersuchungszeitraum der Studie umfasst die ersten 50 Jahre der Stiftung, vom Gründungsjahr 1917 bis zum Jubiläum 1967. Die Studie ist chronologisch aufgebaut und gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil thematisiert den institutionellen Aufbau und die Profilierung der Stiftung, der zweite beschäftigt sich mit der Sozialpolitikgeschichte der Zwischenkriegszeit, der dritte Teil behandelt die Weiterentwicklung der Stiftung zu einer Fach- und Dienstleitungsorganisation nach der Einführung der AHV 1948.

1917 unter dem Patronat der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft von zehn philanthropisch motivierten Männern aus dem Kanton Zürich gegründet, übernahm die Stiftung als «Fürsprecherin des Alters» eine doppelte Rolle. Zum einen versuchte sie, Öffentlichkeit und Politik auf spezifische, sich wandelnde Bedürfnisse und Anliegen alter Menschen aufmerksam zu machen. Zum andern half die Stiftung bedürftigen alten Menschen, materielle Not zu überwinden und Lebenskrisen zu meistern. Von Anfang an setzte sie sich für die Einführung einer gesamtschweizerischen Altersversicherung ein.

Ruoss legt dar, wie der Gründer des Hilfswerkes, Maurice Champod (erster Zentralsekretär bis 1922), sein Hilfswerk in erster Linie als Instrument der öffentlichen Einflussnahme verstand, mit dem er eine stabile Solidaritätsgrundlage für die geplante staatliche Altersversicherung schaffen wollte. Gleichzeitig entwarf er ein gemeinnütziges Programm als Gegenentwurf zum Versicherungsprojekt.

Die Strategie bestand darin, auf psychosoziale statt materielle Probleme alter Menschen aufmerksam zu machen und damit die Altersfrage neu zu problematisieren. Als sich die Einführung der AHV verzögerte, musste Werner Ammann (zweiter Zentralsekretär 1922 bis 1952) eine Programmänderung herbeiführen. Er baute die Stiftung in der Zwischenkriegszeit zu einer gemeinnützigen Fürsorgeorganisation aus, die bescheidene finanzielle Beiträge an verarmte alte Menschen leistete. Die Stiftung stiess damit bereits gegen Ende der 20er Jahre an finanzielle Grenzen, Bundessubventionen ab 1929 konnten ein Fiasko abwenden. Das Stiftungsziel der nicht materiellen Alterspflege wurde auf die Zeit nach der Einführung einer Altersversicherung verschoben.

Im zweiten Teil leuchtet Ruoss die sozialpolitischen Debatten um die Lösung der Altersfrage von den 1920er Jahren bis zur Einführung der AHV 1948 systematisch und unter Einbezug der bisherigen Forschungsliteratur und zahlreicher Quellen aus. Die Ablehnung der AHV-Gesetzesvorlage 1931 stellte eine grundlegende sozialpolitische Zäsur dar, auf welche die Sozialpolitik des Bundes ab 1934 mit der Schaffung eines gesamtschweizerischen steuerfinanzierten Fürsorgesystems unter Einbezug der Kantone und der Stiftung reagierte. Damit legte der Bund den Grundstein für ein subsidiäres Altersvorsorgesystem. Ruoss vertritt die These, dass es nach 1948, anders als es die Historiografie oft darstelle, nicht zu einem Systemwechsel kam, sondern vielmehr zur Einrichtung eines dualen Altersvorsorgesystems, das neben Versicherungsleistungen auch Fürsorgeleistungen gewährte und das bis in die 1970er Jahre zu schwach war, das soziale Risiko Alter wirkungsvoll zu bekämpfen. Der Eintritt in den Ruhestand war nur privilegierten Personen möglich.

Das dritte Kapitel widmet sich der Neuorientierung und Weiterentwicklung der Stiftung zu einer Fach- und Dienstleistungsorganisation nach 1948. Ruoss fokussiert auf die Frage, wie sich die Stiftung neue soziale Aufgaben stellte und legt überzeugend dar, welche Rolle die Altersforschung in der Erschliessung neuer Handlungsfelder spielte. Ruoss diskutiert die noch wenig erforschten Veränderungen der Altersdiskurse seit der Jahrhundertwende und legt aufschlussreich die Verschiebungen der Debatte ab 1929 frei, als neue Disziplinen – Sozialmedizin, Psychologie, Gerontologie – ein neues Verständnis des Alters und des Alterns zu entwickeln begannen. Die Stiftung nahm das anwendungsorientierte Expertenwissen der Altersforschung auf und veränderte ihre Alterspflege von einer arbeitsorientierten in eine freizeitorientierte Richtung. Damit beteiligte sich die Stiftung aktiv an der Konstituierung und Ausgestaltung einer nachberuflichen Lebensphase, für welche die Stiftung eine breite Palette von aktivierenden Angeboten entwickelte. Ebenso stellte sie sich der Wohnfrage und führte Alternativen zur stationären Heimversorgung für alte Menschen ein. Die gemeinnützigen Angebote waren stark geschlechterspezifisch, typisch weibliche Probleme des Alters fanden kaum Beachtung. Der Ausschluss von Frauen blieb eine Konstante. Dank ihrer Vernetzung mit einschlägigen wissenschaftlichen Gesellschaften und Ausbildungsstätten etablierte sich die Stiftung als Expertin für Altersfragen. 1961 wurde sie vom Bund mit der Leitung der Kommission für Altersfragen beauftragt, deren Schlussbericht zum 50-jährigen Jubiläum der Stiftung 1967 vorlag und als politischer Wegweiser für die 7. AHV-Revision 1968 diente.

Ruoss legt eine fundierte und methodisch durchdachte Untersuchung der Geschichte der «Stiftung für das Alter» vor und schliesst eine wichtige Forschungslücke. Seine ausführliche Studie zeichnet sich durch eine präzise Auswertung einer Fülle von unterschiedlichen Quellen und eine erkenntnisbringende Verknüpfung verschiedener Forschungsfelder – von der Sozialstaatsgeschichte, der historischen Wohlfahrtsforschung zur Wissensgeschichte – aus. Besonders herauszuheben ist die überzeugende Darstellung der Entwicklung der Altersdiskurse in der Schweiz sowie der schweizerischen Besonderheiten in der Programmatik und Praxis der Wohlfahrtsproduktion am Beispiel der Altersvorsorge.

Zitierweise:
Anita Ulrich: Rezension zu: Matthias Ruoss, Fürsprecherin des Alters. Geschichte der Stiftung Pro Senectute im entstehenden Schweizer Sozialstaat (1917–1967), Zürich: Chronos Verlag, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 2, 2017, S. 263-265.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 2, 2017, S. 263-265.

Weitere Informationen